Gesunde und kranke Nerven




 

Versuchen wir die drei großen Systeme: Freud – Adler – Jung möglichst kurz in ihrem innern Wesen (nicht in ihren ausgesprochenen Lehren) zu fassen, so könnte man vielleicht sagen:

In Freuds Forschungsarbeit spürt man überall den heißen Atem der Großstadt. Die Überhelle, die blendende Dialektik gehört dazu. Ein die andern nicht ruhenlassender, selbst nie ruhender Großstadt‑Faust.

In der Adlerschen Schule ist überall Kleinstadt; jeder sieht dem Nachbar in die Fenster und kontrolliert eifersüchtig dessen Lebensstandard – wobei die Geltung bei dem andern das Entscheidende ist. Anheimelnde Düfte der Mittelstandsküche in allen Gassen.

Mit Jung ist man weder in der Großstadt noch in der Kleinstadt, da ist man in frischer freier Alpenluft. Der Mensch als Bergwanderer nimmt zwar zeitweilig einen Führer, im übrigen aber ist er auf sich selbst und die eigne Kraft gestellt[51] – neben ihm Fels und Erde, über ihm strahlender Himmel und kraftspendende Sonne.“

Diese brillante Charakteristik findet sich in einer kleinen Schrift: „Gesunde und kranke Nerven“ von Doktor L. Paneth (erschienen in Max Hesses Verlag, Berlin‑Schöneberg). Solcher populärer Bücher über diesen Gegenstand gibt es viele – so eines wie dieses habe ich noch nie gesehn.

 

***

 

Man muss den abscheulichen Missbrauch des psychiatrischen Vokabulariums wie übrigens den Missbrauch jeder Fachterminologie in Betracht ziehen, um die Reife und Klarheit, die Sauberkeit und gelassene Überlegenheit zu würdigen, die in diesem Bändchen zu finden ist. Es ist ein A‑B‑C‑Buch, aber nichts ist schwerer zu schreiben als ein Lehrbuch. Lehren heißt: vom innern Reichtum abgeben; man muss am Ende stehen, wenn man andern den Anfang zeigen will.

Paneth, ein berliner Nervenarzt, erklärt zunächst die zeitgegebenen[52]Vorbedingungen der Nervosität und deren, Jahrgänge 1910–1930. Da ist nichts außer Acht gelassen[53], und alles ist gesagt: die wirtschaftlichen Umstände, die große Stadt, die Unrast und die Maschine. Es ergibt sich daraus[54], dass die landesüblichen Neurosen viel mehr schematisiert sind als ihre Besitzer glauben, die sich alle so einmalig vorkommen. Sicherlich sind ihre falschen seelischen Schaltungen untereinander ein wenig verschieden, aber sie lassen sich doch fast alle auf einen Generalnenner bringen[55]. Paneth tut das, ohne zu schematisieren. Man kann, sagt er, die gegebenen Zeitumstände zwar nicht ausradieren – man kann sie aber, soweit es sich nicht um unmittelbare Not[56]handelt, teilweise überwinden. Herein…? Ein Unentwegter.

„Guten Tag. Nervenkrankheiten? Bürgerliche Krankheiten. Kleinbürgerliche Vorurteile. Ihr Arzt ist ein Kleinbürger. Sie sind auch einer. Wenn der Fünfjahresplan durchgeführt wird, hört diese Schweinerei von selbst[57]auf. Paneth läßt die gesamtwirtschaftliche Situation schon rein dialektisch außer Acht; seine Folgerungen sind grobe, durch die Beschränktheit des bürgerlichen Gesichtskreises bedingte Fehler. Nur die materialistisch‑dialektische Methode… die soziale Psychologie… die kapitalistische Produktion…“

Legen Sie es bitte solange auf den Stuhl. Denn so sehr wir gegen jene üble Anschauung Front machen[58], die die Wirtschaft ignoriert und so tut oder so tun möchte, als gebe es nur die „reine Seele“, eine Anschauung, die nichts von der materiellen Not, nichts vom Leid der Proletarier, nichts von den Ursachen dieser Not weiß: so sehr ist es an der Zeit, den Unentwegten mitzuteilen, dass man den Marxismus nicht wie eine Käseglocke über die Welt stülpen kann. Er deckt sie nicht. Ihr habt aus ihm eine dogmatische Religion gemacht. Wir machen das nicht mit.

Denn die Frage, die einmal durch einen Diskussionsredner aufgeworfen wurde: „Psychoanalyse oder Marxismus?“ ist etwa so intelligent gestellt wie die Antithese: Universität oder Krankenhaus? Kranke gehören in ein Krankenhaus, Studenten auf eine Universität. Die Kreise schneiden sich gar nicht.

Und hier steckt der ungeheure Fehler[59], der unsereinen veranlasst, dauernd nach zwei Seiten sehen zu müssen.

Nach rechts, wo die Bürger stehen, die alles, was auf der Welt geschieht, nur an ihren wirtschaftlichen Interessen messen, Leute, die diese ungeheure Hetze gegen Russland inszenieren, Menschen, denen noch die dümmste Nachricht über Russland willkommen ist, weil der Bolschewismus ihr geronnenes schlechtes Gewissen darstellt, und die jedes von den unsäglichen deutschen Provinzzeitungen abgedruckte Schauertelegramm über Stalin mit einem Aufatmen lesen: „Gottseidank. Also brauchen wir die Löhne nicht zu erhöhen. Also ist unser Bankkonto richtig. Lasset uns beten.“ Sie werden auch diese Vorbehalte so auffassen. Sie haben die Philosophie ihres Geldes.

Und nach links müssen wir sehen, wo unentwegte Marxisten mit einer sicherlich großen Theorie alles heilen wollen: die Krankheiten und die echten Seelennöte, an denen jeder von uns zu tragen hat, die Neurosen, die aus dem Wirtschaftlichen herrühren, und jene geistigen Betriebsstörungen, die ewig sind wie die Welt. Die fanatische Wut, womit jede Andeutung abgelehnt wird, dass es vielleicht auch noch außerhalb der marxistischen Gedankengänge etwas gebe, was für den Menschen von Wichtigkeit ist[60], läßt an die verzweifelten Versuche der katholischen Kirche denken, eine stets Neues gebärende Welt zu meistern. Es ist ihr, trotz allem, nicht gelungen. Die unentwegten Marxisten haben die Philosophie ihrer Gesinnung.

Ja, also Paneth. Die Heilmittel, die er für den Neurotiker dieser Epoche gibt, sind klein; er sagt das auch, denn es gibt nicht allzuviele solcher Medizinen. Es sind ganz einfache Dinge dabei, über die nur jemand spötteln kann, der nicht weiß, was Turnen und Atmen, was Meditation und was der Körper ist. Das hat die Arbeitersportbewegung längst erkannt; es gibt da bereits außerordentlich vernünftige Anweisungen und Belehrungen, wie man wenigstens der kleinern Übel[61]Herr werden kann. In dem Augenblick, wo ein Unternehmer oder eine Gewerkschaft versuchen, solche Winke dazu zu missbrauchen, sie unter der Marke „Dienst an der Gemeinschaft“ an Stelle des Klassenkampfes zu setzen, ist die schärfste Abwehr am Platz. Lediglich als Hilfsmittel aber ist dergleichen erlaubt.

Paneth spricht dann über die Neurosen des Geschlechtslebens in musterhafter und vorbildlich ruhiger Weise; wie denn überhaupt dieses Buch eine Geisteshaltung aufweist, die in Deutschland so ungeheuer selten ist: es ist gelassen. Paneth sagt, wie es ist; er versucht, Anweisungen zu geben, aus seelischen Schwierigkeiten herauszukommen, und eine gute Diagnose ist ja oft eine halbe Heilung, besonders im Sexuellen. Herein…? Ein Hitler‑Mann.

„Heil! Ihr verdammten Syrier! In jüdischer Geilheit habt ihr die Psychoanalyse erfunden, um euern dreckigen Trieben freie Bahn zu schaffen[62]! Nichts ist euch heilig, während wir uns sehr heilig sind. Ihr verseucht die Städte und das Land mit eurer niedrigen Auffassung vom Geschlechtlichen, dem ihr ohne Weihe frönt! Ihr denkt überhaupt nur an blonde Weiber! Wir denken an schwarzgelockte Männer. (Ihr stürzt euch auf die Weiber. Wir uns auf die Männer.) Ihr erkennt keine Zucht an und keine Sitte. Syrier. Asiaten. Eunuchen. Schmarotzer. November‑Verbrecher. Demokraten. Bolschewisten. Man sollte euch schlagen, dass die rote Suppe spritzt. Im übrigen sind wir die deutsche Kultur! Heil!“

Na, es ist gut; hier haben Sie eine Zigarre. Nichts zeigt die erschreckende Geistlosigkeit dieser deutschen Bewegung, gehätschelt von den Richtern, geduldet von zahllosen Polizeiverwaltungen, bezahlt von den Unternehmern, die eine Garde gegen die Wut der Arbeitslosen brauchen und zwei Garden gegen ihre eignen Arbeiter, bejubelt von ratlosen, ausgepowerten Proletariern, besonders auf dem Lande… nichts zeigt die traurige Geistesverfassung dieser Leute so an, wie die völlige Verständnislosigkeit gegenüber der Zeit, in der sie leben. Sie sehen nicht. Sie hören nicht. Und der irdische Kirdorf ernährt sie doch.

Nicht zu spüren, wie diese Heilmethoden dem Gefühl für die tiefe Not entsprungen sind, in der die Zeitgenossen stecken; niemals die Sprechstunde eines Seelenarztes in der Großstadt besucht zu haben; immer die eigne, sprungbereite Plumpheit auf die andern zu projizieren und nicht zu begreifen, dass in der Sexualität vom Grinsen bis zum Lächeln alle Stadien möglich sind… man muss schon ein Hitler‑Mann sein, um das vollbringen zu können. Paneth steht selbstverständlich weit über diesem Sumpf. Er ist für die Sittlichkeit, nicht für das Muckertum.

Er ist vor allem kein Hohepriester, und das macht das Buch und den Mann so sympathisch. Er wirft manchen seiner Berufskollegen rechtens vor, wie jeder von ihnen auf sein „System“ schwört, als ob man alle Kranken nach einer einzigen Methode behandeln könnte. Das betont auch Jung, grade bei ihm ist das doppelt beachtlich, weil er die psychoanalytischen Elemente noch in den fernen Kulturen Asiens erkennt, ohne sie nun kopierend zu übernehmen. Paneth sieht die Sache so an:

Der durchschnittliche städtische Mitte‑leuropäer befindet sich fast immer im Vorstadium der Neurose. Was kann man für ihn tun?

Man kann ihn analysieren. Damit ist die Sache jedoch nicht abgetan, wie die extremen Freudianer glauben. Man muss nicht nur analysieren, nicht nur auflösen, man muss auch wieder zusammensetzen, also die von Jung geforderte Synthese suchen. Man muss den Menschen zu sich selber verhelfen – schon in der Soziologie Simmels findet sich die schöne Erkenntnis, dass es fast niemand zu sich selber gebracht hat. Und hier zu helfen: das ist keine Aufgabe des Marxismus und keine des Nationalismus – das ist eine Aufgabe der Seelenkunde.

Die Definitionen des Panethschen Buches sind für jeden, der unter sich und unter seiner Zeit leidet, eine kleine Erlösung. Paneth sagt allerdings, dass es dem Neurotiker in den meisten Fällen[63]nicht möglich sein wird, sich selber zu heilen, weil er sich dazu in Arzt und Patienten spalten müsste, was nicht ungefährlich ist, und weil er dann sehr viel Kraft auf diesen Heilungsversuch in sich verwendet, also grade das tut, was er zu tun kaum fähig ist. Es muss schon einer da sein, der den Knaben an die Hand nimmt und ihn über den Damm führt. Und man kann nur wünschen, dass in den öffentlichen Beratungsstellen der Krankenhäuser viele solcher Männer säßen, wie Paneth einer ist. Was zu bezweifeln sein dürfte: der Durchschnittsarzt steckt noch tief im mechanistischen Darwinismus.

Und auch für den, der das Buch nicht aus egoistischen Interessen liest, springt viel Lehrreiches über die Zeit heraus, die ja von Neurotikern repräsentiert wird. (Hier sei Hitler ausgenommen; er ist nicht einmal ein Besessener. O, wäre er wenigstens verdreht!) Zu Ende formuliert ist bei Paneth die Definition der Zeit‑Störungen; statt: Spannung – Entspannung finden wir: Erschlaffung – Krampf; Explosionen, die „nur heftig sind, aber nicht stark“… lest das nach.

Und legt das Büchlein in die richtige Schublade. Es ist keine Bibel, sondern eine Fibel. Es ist der saubere Versuch, auf dem Gebiet der Seelenkunde, nicht losgelöst von allem andern, aber auch nicht fachlich überbetont, den Menschen zu helfen. Sie haben es nötig[64].

 

Übungen zur Erzählung

 

I. Übersätzen Sie ins Deutsch:

1. Маленьких детей нельзя оставлять без присмотра (предоставлять самим себе).

2. Давайте приведем все факты к общему знаменателю.

3. Юрген очень милый; друзья у него появляются сами собой.

4. Большинство ошибок кроется в том, что у человека узкий (ограниченный) горизонт мыслей.

5. Мы постоянно вынуждены выбирать меньшее из двух зол.

 

II. Adverb oder Adjektiv? Übersätzen Sie ins Russiche:

1. Neuerdings ist ihre Besserung beachtlich.

2. Er wahrt seine Arbeit wörtlich eifersüchtig!

3. Ihre Tochter ist außerordentlich fleißig und klug.

4. Du gehst zur Party lediglich, wenn dein Bruder mitgeht.

5. Das ist allerdings schwer, einen Berg hin‑unterzusteigen.

 

III. Wählen Sie die richtige Form:

1. An‑in‑auf den meisten Fällen ist die Geisteskrankheit nicht zu heilen.

2. Die Neurosen ergeben sich darauf‑daran‑daraus, dass der Mensch sich stets unzufrieden fühlt.

3. Gibt es Nachricht über‑auf‑um seine Prüfung?

4. Heutiges Spiel ist nach‑zu‑von großer Wichtigkeit für ihn.

5. Auf‑an‑nach dieser Methode werden mehrere Viren bewältigt.

 

Schlüssel zur Übungen:

 

I.

1. Man darf die kleine Kinder nicht auf sich selbst stellen.

2. Lasst uns alle Fakten auf einen Generalnenner bringen.

3. Jurgen ist so nett; neue Freunde treten von ihm von selbst auf.

4. Die meisten Fehler stecken darin, dass der Mensch einen beschränkten Gesichtskreis hat.

5. Wir sind gezwungen, stets das kleinere von zwei Übeln wählen.

 

II.

1. Adjektiv. В последнее время ее выздоровление значительно (заметно).

2. Adverb. Он охраняет свою работу прямо‑таки (буквально) ревниво!

3. Adverb. Ваша дочь чрезвычайно прилежная и умная.

4. Adverb. Ты пойдешь на вечеринку исключительно, если твой брат пойдет с тобой.

5. Adverb. Это действительно трудно, спускаться с горы.

 

III.

1. In

2. Daraus

3. Über

4. Von

5. Nach

 

Blick in ferne Zukunft

 

…Und wenn alles vorüber ist[65]–; wenn sich das Alles totgelaufen hat: der Hordenwahnsinn, die Wonne, in Massen aufzutreten, in Massen zu brüllen und in Gruppen Fahnen zu schwenken, wenn diese Zeitkrankheit vergangen ist, die die niedrigen Eigenschaften des Menschen zu guten umlügt[66]; wenn die Leute zwar nicht klüger, aber müde geworden sind; wenn alle Kämpfe um den Fascismus ausgekämpft und wenn die letzten freiheitlichen Emigranten dahingeschieden sind –:

dann wird es eines Tages wieder sehr modern werden, liberal zu sein.

Dann wird einer kommen, der wird eine gradezu donnernde Entdeckung machen: er wird den Einzelmenschen entdecken. Er wird dahinter kommen: Herrschaften, es gibt einen Organismus, Mensch geheißen, und auf den kommt es an. Ob der glücklich ist, das ist die Frage. Dass der frei ist, das ist das Ziel. Gruppen sind etwas Sekundäres – der Staat ist etwas Sekundäres. Es kommt nicht darauf an, dass der Staat lebe – es kommt darauf an, dass der Mensch lebe.

Dieser Mann, der so spricht, wird eine große Wirkung hervorrufen. Die Leute werden seiner These zujubeln und werden sagen: „Das ist ja ganz neu! Welch ein Mut! Das haben wir noch nie gehört! Eine neue Epoche der Menschheit bricht an! Welch ein Genie haben wir unter uns[67]! Auf, auf! Die neue Lehre –!“

Und seine Bücher werden gekauft werden oder vielmehr die seiner Nachschreiber, denn der erste ist ja immer der Dumme.

Und dann wird sich das auswirken, und hunderttausend schwarzer, brauner und roter Hemden werden in die Ecke fliegen und auf den Misthaufen. Und die Leute werden wieder Mut zu sich selber bekommen, ohne Mehrheitsbeschlüsse und ohne Angst vor dem Staat, vor dem sie gekuscht hatten wie geprügelte Hunde. Und das wird dann so gehen, bis eines Tages…

 

Ignaz Wrobel

 

 

Die Großen

 

Kein Kind versteht die Erwachsenen – so, wie ja auch die Erwachsenen gewöhnlich ihre Kinder nicht verstehn. Die Kinder sehen auf die Großen herab… Was die alles machen! was die so für Sorgen haben! weshalb sie sich laut gebärden und was sie nicht sehen und mit welchen geheimnisvollen Arbeiten sie sich befassen und wichtig tun! Kein Kind versteht die Erwachsenen; es fühlt sie nur manchmal.

Nun bin ich auch erwachsen und verstehe meine Miterwachsenen doch nicht sehr schön. Es ist wohl vor allem der tierische Ernst[68], von dem der Weise als von dem Kennzeichen niedriger Naturen spricht, der mich fernhält. Wie nehmen sie es alles ernst! Sich und ihren Beruf und ihr Haus und ihre Familie und ihr Vaterland und ihre Partei und ihr Geld, na, das vor allem – und da ist kaum ein Augenblick, in dem sie sich einmal selber auf den Kopf spucken können, über sich selber lachen, einmal aus sich herausgehen… nicht doch. Ich stehe daneben wie Chaplin: ich muss immerzu den Kopf schütteln. Und sehe an mir herunter: Ja, trage ich denn noch kurze Hosen? Nein, im allgemeinen nicht. Ich sollte doch nun auch als Original‑Erwachsener mit den Großen groß tun… ich kann nicht. Das ist sehr gefährlich – man darf es gar nicht laut sagen; dann nehmen sie einen nicht mehr für voll. „Der Mann is nich zerjeehs“, sagen sie dann. Ich kenne Kaufleute, die sind jünger als ich; wenn die vom Geschäft sprechen, bin ich wieder sieben Jahre, klettere meinem Papa auf dem Schoß herum, und der sagt: „Jetzt störe mal nicht! Also, Herr Fahrenholz – wir haben bei der Kontrolle festgestellt…“ Dabei war Vater nicht ernster, als er unbedingt musste, er hatte Humor – aber wenn er über seine Geschäfte sprach, dann machte er das ganz ernst und vernünftig, und ich verstand kein Wort. Ich sah an ihm hoch…

Ich sehe heute an den Erwachsenen hoch. Das kommt vielleicht auch daher, dass sie alle einen richtigen Beruf haben, der sie ergriffen hat (sie bilden sich ein: den sie ergriffen haben). Wenns windig ist, halten sie sich an dem fest. Ja, ich kann das auch – aber dann muss ich mich verstellen. Im Laufe der Jahre lernt man so allmählich, was man in den verschiedenen Lagen tun muss: hier lügen und da mit Applomb die Wahrheit sagen und auf alle Fälle furchtbar ernst sein. Manchmal juckt es mich gradezu, während solch eines Gesprächs, Verzeihung: Verhandlung, pardon: Konferenz, den Partner ein bisschen in die Seite zu schubsen und zu sagen: „Max. Das ist doch alles Zimt. Hör mal zu, wir wollen das so machen…“ Aber das darf man nicht. Man muss sein Gesicht glatt halten, wie wenn ein unsichtbares Monokel drin säße, kalt und hart, römisch‑japanisch, und dann muss man sagen: „Ich habe da noch einige Bedenken. Die Ziffer IV des Vertrages…“ So muss man. Aber man möchte das nicht.

Und daher bringts denn auch unsereiner zu nichts. Geld will ernst genommen werden; sonst kommt es nicht zu dir. Und ich werde immer jünger und werde wohl mit siebzig reifenspielend im Tiergarten angetroffen werden und selig die Kinderbücher meiner Jugend lesend. Und wenn mir heute auf dem Lande Kinder begegnen, die scheu den fremden, dicken Mann grüßen, dann möchte ich immer hingehn und sagen: Kinder, ich gehöre ja eigentlich zu euch – nicht zu euerm Lehrer! Aber das glauben sie mir nicht, für sie bin ich ein Erwachsener. Und für die Erwachsenen ein halbes Kind. Man hats gar nicht leicht im menschlichen Leben.

 



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