Tiny Fierz-Herzberg
I. Lesen Sie den Titel, den ersten Absatz der Erzählung und vermuten Sie, worum es sich handeln kann.
Der Tag dämmerte herauf. Die alte Frau im weißen Bett an der Wand erwachte. Auf ihrem kleinen, runzeligen Gesicht lag ein glückliches Lächeln. Sie hatte geträumt, und im Traum war ihr ein Stück ihrer Jugend wiedergeschenkt worden.
Sie stand unter dem alten, krummen Birnbaum auf der Wiese hinterm Haus und hängte Wäsche auf. Neben ihr saß ihr Jüngstes im Gras und zupfte an den Halmen, und aus der Nachbarschaft hörte sie die Stimmen der spielenden Kinder. Johannes aber, ihr Mann, bastelte am Gartenzaun und summte zufrieden vor sich hin. Der Sommerwind griff zart und weich in ihr reiches braunes Haar und sie fühlte, dass sie sehr glücklich war.
Die alte Frau schloss die Augen, um den schönen Traum festzuhalten; aber schon wurde das farbige Bild blass und entfernte sich. Ein Laut! Vielleicht war es nebenan im Zimmer der uralten Frau Haberkorn oder draußen auf dem langen Flur, der mit seinem weichen grünen Läufer an den vielen weißen Türen vorüberzog. In Sekundenschnelle waren die Traumbilder zerronnen.
Benommen erkannte sie in der dämmerigen Stube das matt erhellte Rechteck des Fensters und in der Ecke die kleine Kommode mit den Photographien und Andenken. Ach ja, das war die Wirklichkeit: sie war in einem Altersheim! Enttäuscht kehrte sie den Kopf der Wand zu.
Draußen erwachte das große Haus Türen gingen, Wasser rauschte, Geschirr schepperte. Es begann nach frischem Kaffee zu duften. In der Ferne, von Sankt Kilian, läutete es zum Frühgottesdienst. Frau Amberg erhob sich; sie war immer eine Frühaufsteherin gewesen. Wie hatten doch ihre Kinder gesagt: «Es ist ein gutes, ein rechtschaffenes Haus und bei weitem nicht das billigste, du kannst es uns glauben. Es wird dir dort an nichts fehlen, und wenn du einen besonderen Wunsch hast, so schreib uns, Mutter!» Sie liebten die Mutter, gewiss. Von Berlin und Frankfurt waren sie sogar gekommen, um sich der Meinung ihrer Schwester anzuschließen, dass es so für die Mutter, am besten sei. Es waren wohlgeratene Kinder, sie waren tüchtig in ihren Berufen, hatten selbst Familie, und drei von ihnen besaßen bereits eigene Häuser. Sie wussten, was sie der Mutter schuldig waren.
Wussten sie es wirklich? Schweren Herzens trennte sich Mutter Amberg von der liebgewordenen kleinen Wohnung, in der sie zuletzt mit Johannes und Jenny, der Jüngsten, gewohnt hatte. Und nun lebte sie bereits über ein Jahr im „Damenheim“. Wie fremd, einsam und verloren kam sie sich hier vor! Nur
die wenigen Dinge auf der Kommode erinnerten an früher. Gewiss, die Schwestern umsorgten sie liebevoll, es fehlte ihr an nichts, nicht an Nahrung, Kleidung, Wohnung und Pflege, und es fehlte ihr doch so viel! Wie gerne hätte sie in der Familie eines ihrer Kinder die Enkel betreut und kleine nützliche Arbeiten verrichtet, mit ihnen ihre Sorgen und Freuden geteilt und ein wenig von früher erzählt! Nun war sie auf die Seite gestellt, unnütz, halb vergessen. Ihr bleibt nichts mehr als das Warten, das Warten auf die Mahlzeiten, das Warten auf einen Brief, das Warten auf Besuch, auf diesen am sehnsuchtsvollsten, und in trüben Stunden das Warten auf das Letzte.
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„Wir hoffen, liebe Mutter, dass Du Dich wohl fühlst, wir besuchen Dich bald“, schrieben sie hin und wieder. Bisweilen schickten sie auch Päckchen mit guten Dingen; aber gekommen war nur Grete, und das nur wenige Male, obwohl sie nur eine halbe Stunde Bahnfahrt entfernt wohnte. Ein paar Mal waren auch die Kinder dabei. Sie küssten die Großmutter, brachten Blumen und Gebäck und erfüllten die Stube mit ihrem jungen Leben. Aber nach einer Stunde waren sie wieder ausgeflogen, und sie hatte doch noch so viel fragen und erzählen wollen, um teil an ihrem Leben zu haben. Einmal war auch Gretes Mann erschienen, aber er schaute alle paar Minuten heimlich auf die Armbanduhr. War ihm der Besuch nur eine lästige Pflicht? War er mit seinen Gedanken überhaupt hier?
Es klopfte. Schwester Agathe sah durch die Tür: „Frau Arnberg, heute frühstücken wir wegen des Muttertags früher. Es werden viele Besucher kommen“. Und schon war sie wieder verschwunden. Betroffen blickte Frau Amberg auf den Teppich. Muttertag! Plötzlich war es, als habe jemand in ihrem Innern ein warmes, helles Licht angezündet.
Gegen zehn Uhr begannen sich die Gänge und Zimmer mit lachenden schwatzenden Menschen zu füllen. Autos fuhren vor, Blumen und Telegramme wurden abgegeben. Das Klingeln an der Pforte riss nicht ab. Muttertag!
Frau Amberg lächelte, sie bemerkte es selbst überrascht im Spiegel. Dann vertauschte sie das braune Wollkleid mit ihrem besten schwarzen Rock und der weißen Seidenbluse. Sie ordnete das dünne, graue Haar sorgfältig und legte die Halskette um, die ihr Johannes zur Geburt von Erwin geschenkt hatte. Dann setzte sie sich ans Fenster.
Das Mittagessen erbat sie sich aufs Zimmer, um da zu sein, wenn sie kämen. Draußen klingelte es wieder und wieder. Das Schwatzen, Begrüßen, Lachen und Türenschlagen nahm mit dem steigenden Tage zu. Einige Männer und Frauen führten die Mütter sorgsam und liebevoll am Arm auf die Straße und hoben sie in ihre Wagen. Alte Hände winkten beseligt und stolz den Zurückbleibenden am Fenster zu.
Um vier Uhr brachte Schwester Agathe das Tablett mit dem Kaffee und einem großen Stück Sandtorte. Frau Amberg in ihrer festlichen Bluse und dem sorgsam frisierten Haar saß noch immer am Fenster. Wer sagte denn, dass Besuch sich nicht auch noch gegen vier oder fünf Uhr einstellen könne?
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Sicher hatten ihre Kinder zuerst mit den Enkeln zu Hause Muttertag gefeiert. Außerdem würden vielleicht nur Jenny und Grete kommen, sie wohnten am nächsten. Aber das strahlende Licht in ihrem Innern war zu einem armen, zitternden Flämmchen herab gebrannt. Sie erhob sich, füllte die Tasse und setzte sich wieder ans Fenster.
Der Himmel war grau geworden, es begann zu regnen. Auf dem langen Flur draußen und in der Diele erklangen hier und da schon Abschiedsworte: „Auf bald, Mutter“— „Auf Dienstag, Mutter.“ - „Auf morgen, Mutter“ - „Kommst du nächsten Sonntag, Mutter?" und dann noch eine tiefe, ruhige Männerstimme voll Zärtlichkeit: „Schlaf gut, Mutter!“
Da erhob sich Frau Amberg und setzte sich in den dunkelsten Winkel ihres Zimmerchens. Sie legte das Gesicht in ihre Hände und schluchzte leise vor sich hin: „Bin ich nicht auch eine Mutter? Sind Großmütter keine Mütter mehr?“
Leise ging die Tür auf. Schwester Agathe trat ein. „Aber Mutter Amberg, liebe Mutter Amberg sind sie nicht gekommen?“ Ihre jungen Hände strichen scheu über den grauen Scheitel der Weinenden. Die alte Frau hob den Kopf: „Vier Kinder habe ich geboren, und ich habe alles für sie getan, was in meiner Kraft stand, aber sie haben mich heute vergessen“.
Texterläuterungen:
1. heraufdämmern - (рас)светать; забрезжить,
2. an den Halmen zupfen – теребить стебелёк;
3. sich hinsummen – напевать вполголоса,
4. zerrinnen (o; o) – исчезать; рассеиваться;
5. benommen –оглушённо, удручённый,
6. das Frühgottesdienst –утренняя служба в церкви,
7. ein rechtschaffenes Haus – приличный дом;
8. wohlgeraten – удачный;
9. scheppern – постукивать, дребезжать;
10. unnütz – бесполезный, ненужный;
11. beseligt – осчастливленный, приведённый в восторг;
12. der Scheitel – темя, макушка; пробор.
II. Aufgaben zum Textverstehen:
1) Waren die Vermutungen richtig?
2) Finden Sie im Text Antworten auf folgende Fragen:
a) Was hat die alte Frau geträumt?
b) War sie in ihrer Jugend glücklich?
c) Wie war ihre Wirklichkeit? Warum kehrte sie enttäuscht den Kopf der Wand zu?
d) Warum war diese Frau im Altersheim? Hatte sie keine Kinder?
Suchen Sie die Textstellen heraus,
a) die über die Lebensbedingungen im Damenheim berichten;
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b) die die Gefühle und Gemütszustand von Frau Amberg zeigen.
4) Äußern Sie ihre Meinung zu folgenden Behauptungen:
a) Die Kinder wussten, was sie der Mutter schuldig waren. Wussten Sie es wirklich?
b) Ihr bleibt nichts als das Warten, das Warten auf Mahlzeiten, auf einen Brief, auf einen Besuch…
5) Aufgaben zum Sprechen
Geben Sie den Inhalt der Erzählung nach folgenden Punkten und Stichwörtern wieder:
- Der schöne Traum und die Wirklichkeit:
j-m ein Stück Jugend wiederschenken, die Stimmen der spielenden Kinder hören, Wäsche aufhängen, im Gras spielen, etw. basteln, sich glücklich fühlen, in einem Altersheim sein, eine dämmrige Stube, die kleine Kommode mit Photographien und Andenken, benommen, enttäuscht.
- Die Entscheidung der Kinder:
wohlgeratene Kinder, tüchtig in Berufen sein, Familien haben, eigene Häuser besitzen, die Mutter überreden, das Gute, für die Mutter am besten sein, nicht billiges Haus, es wird an nichts fehlen, hin und wieder Briefe schreiben, Päckchen mit guten Dingen schicken, nur wenige Male zu Besuch kommen, eine lästige Pflicht sein.
- Schweren Herzens trennte sich Frau Amberg von geliebter Wohnung und geliebten Kindern:
sich (Dat.) fremd, einsam, verloren vorkommen, an frühere Zeiten erinnern, liebevoll umsorgen, es fehlte nicht an Nahrung, Kleidung, Wohnung, Pflege, die Enkel betreuen, kleine nützliche Arbeit machen, Sorgen und Freuden mit j-m teilen, auf die Seite gestellt sein, unnütz, halb vergessen sein.
- Der Muttertag im Altersheim:
viele Besucher kommen, die Zimmer füllten sich mit lachenden Menschen, Autos fuhren vor, Blumen und Telegramme wurden abgegeben, Begrüßen, Lachen, Schwatzen nahm zu, die Mütter sorgsam und liebevoll auf die Straße führen, in die Wagen heben, stolz den Zurückbleibenden zuwinken.
- Bittere Enttäuschung am Muttertag.
lächeln, das braune Wollkleid mit ihrem besten schwarzen Rock und der weißen Seidenbluse vertauschen, das dünne, graue Haar sorgfältig ordnen, die Halskette umlegen, am Fenster sitzen, das strahlende Licht der Hoffnung, sich in den dunkelsten Winkel des Zimmerchens setzen, das Gesicht in die Hände legen, leise schluchzen, über den grauen Scheitel der Weinenden streichen.