Aus der Geschichte der Phonologie




Die Phonologie ist eine relativ junge linguistische Disziplin: Sie ist Ende der 20er Jahre des vergangenen Jahrhunderts in dem Prager Linguistischen Zirkel entstanden. Ehemalige russische Sprachforscher N. Trubetzkoy, S. Karcevskij und R. Jakobson, die damals als Emigranten in Prag lebten und forschten, erregten 1928 auf dem Ersten Internationalen Linguistenkongress im Haag viel Aufsehen mit ihren Thesen zur historischen Phonologie. Im Jahr 1939 erschien das berühmte Werk von N. Trubetzkoy „Grundzüge der Phonologie“, das bis heute als klassisches Werk der Phonologie gilt. Mit diesem Buch wurde der Öffentlichkeit eine geschlossene, wenn auch wegen des Todes des Verfassers im Jahre 1938 nicht völlig abgeschlossene Darstellung der phonologischen Prinzipien und Methoden vorgelegt – eine damals revolutionäre Betrachtungsweise der Lautmaterie. Seitdem gilt N. Trubetzkoy als Begründer der Phonologie. Das ist nicht ganz richtig, obwohl dieser Wissenschaftler ohne Zweifel bis heute der bekannteste Phonologe ist. Er stützte sich jedoch auf die Ideen seiner Vorläufer und Lehrer und entwickelte sie weiter.

Den Grundstein zur phonologischen Betrachtung des Lautes legte der russische Sprachforscher I.A. Baudouin de Courtenay, der ab 1875 zuerst in Kasan, dann in Petersburg als Universitätsprofessor lehrte und zusammen mit seinen Kollegen und Schülern phonologische Studien betrieb. N. Trubetzkoy kannte die Auffassungen seines Lehrers, stützte sich darauf, entwickelte sie in Prag weiter und brachte sie zu einer abgeschlossenen Lehre.

I.A. Baudouin de Courtenay ging in seiner Phonemtheorie auf das Phonem psychologisch heran: Für ihn war das Phonem „eine einheitliche, der phonetischen Welt angehörende Vorstellung, welche mittels psychischer Verschmelzung der durch die Aussprache eines und desselben Lautes erhaltenen Eindrücke in der Seele entsteht, psychisches Äquivalent des Sprachlautes“ (I.A. Baudouin de Courtenay, 1985, S.9: zitiert nach G. Meinhold, S. 38). Er betonte, dass das Phonem kein unteilbarer Komplex ist, sondern eine Summe artikulatorischer und akustischer Vorstellungen (er nannte sie Kineme oder Akusmen) darstellt. Im Phonem werden Kineme und Akusmen zu einem einheitlichen Ganzen verbunden. Er warf auch die Frage auf, welche Rolle einzelne Laute für die Unterscheidung der Wortformen spielen. Das ist gerade der Punkt, den N. Trubetzkoy in seiner Theorie zum wichtigsten machte: die distinktive Rolle des Lautes. Dabei ging N. Trubetzkoy einen Schritt weiter als sein Lehrer: Die Phoneme sind laut seiner Ansicht imstande, nicht nur die Wortformen (пол е – пол я – пол ю), sondern auch Wortbedeutungen zu unterscheiden: т ом – д ом; д а м – д ы м.

Die Arbeit des Prager Zirkels erstreckte sich über viele Gebiete (Funktionalstilistik, Kommunikationstheorie, Sprechkultur u.a.m.), doch in der Mitte steht vor allem die Phonologie, aufgebaut von N. Trubetzkoy und R. Jakobson. Sie gingen von F. de Saussures Dichotomie zwischen Sprache und Sprechen, zwischen Sprachgebilde (langue) und Sprechakt (parole) aus, leiteten davon die Trennung zwischen Phonetik und Phonologie ab, zwischen physikalischer Materie und abstrakter Lautstruktur. N. Trubetzkoy formulierte die Hauptfunktionen des Phonems (distinktive, kulminative und delimitative), von denen ihm die distinktive am wichtigsten war. Er entwickelte die Lehre von den phonologischen Oppositionen, die sich als ein brauchbares praktisches Instrument bei der Ermittlung des Phoneminventars einer Sprache erwiesen und später auf anderen Gebieten der Linguistik ausprobiert wurden. N. Trubetzkoy definierte das Phonem als „die Gesamtheit der phonologisch relevanten Eigenschaften eines Lautgebildes“ (N. Trubetzkoy, S.35). Sein Beitrag zur Phonologie geht aber weit darüber hinaus. Er formulierte Regeln für die Trennung der Phoneme und ihrer Varianten, verglich und beschrieb Lautsysteme mehrerer Sprachen, darunter das deutsche und das russische Phonemsystem. Sein Herangehen an die Laute nennt man funktional, denn ihn interessierte vor allem die Funktion jedes Lautgebildes im gesamten Sprachsystem.

Neben N. Trubetzkoy entwickelte die Phonemlehre ungefähr in derselben Zeit sein englischer Kollege D. Jones. Er hatte aber eine andere Vorstellung vom Phonem. Er betrachtete das Phonem als ein Glied in der Familie von klangverwandten Lauten. Diese Laute werden in einer Sprache so gebraucht, dass „kein Glied der Familie im Wechsel mit irgendeinem anderen Glied innerhalb eines Wortes in dem gleichen phonetischen Zusammenhang auftritt“ (G. Meinhold, S. 43). N. Trubetzkoy lehnte diese Vorstellung konsequent ab: Für ihn war die Rolle eines Lautgebildes in der Sprache wichtiger als seine Verwandtschaft mit ähnlichen Lauten in den Texten.

Ein weiterer Schritt in der Phonologie der Prager Linguisten war die Entwicklung ihrer Ideen durch R.Jakobson und seine amerikanischen Kollegen C.G.M. Fant und M. Halle in den 50er Jahren des 20. Jahrhunderts in den USA. Auf Grund zahlreicher experimentell-phonetischer Untersuchungen ergänzten die amerikanischen Forscher die Liste der artikulatorischen distinktiven Merkmale von N. Trubetzkoy durch deren akustische Korrelate. Sie definierten deshalb distinktive Merkmale als Summe bestimmter akustischer Schwingungen, die der Hörer im Redestrom leicht heraushört, weil er das beim Erlernen der Sprache gelernt hat. So haben diese Forscher der wissenschaftlichen Öffentlichkeit
12 Merkmale (neun Sonoritäts- und drei Tönungsmerkmale) präsentiert, die, wie sie hofften, für die Beschreibung von Phonemen aller Sprachen der Welt ausreichen würden. Doch bald zeigte sich, dass diese Merkmale unzureichend und nicht universell anwendbar sind.

Die amerikanischen Strukturalisten der 50er Jahre (L. Bloomfield, Z.S. Harris) verlegten die Wortbedeutung außerhalb der sprachlichen Formen und analysierten lediglich die Form. Die amerikanischen Phonologen G.L. Trager, H.L. Smith, Ch.F. Hockett u.a. machten sich im Rahmen dieser Theorie zum Schwerpunkt die Distribution von Lauten in einer Sprache. Sie transkribierten genau die Texte, gliederten darin einzelne Segmente aus, verglichen sie in verschiedenen Positionen und versuchten auf dieser Grundlage zu bestimmen, ob ein Phonem oder ein Allophon vorhanden ist. Sie berücksichtigten dabei einige Prinzipien (des Kontrasts und der Komplementarität, der phonetischen Ähnlichkeit, der Symmetrie und der Ökonomie). Das war ein aufwendiges und sehr kompliziertes Verfahren, das der Willkür der Forscher großen Raum gewährte, deshalb fand es keine große Verbreitung in der Fachwelt.

Die generative Grammatik der 60er Jahre (N. Chomsky und seine Nachfolger) bettete die Phonologie in die kommunikativ-pragmatische Komponente der Sprache ein. Dadurch hob sie die klassische Phonologie auf. Sie interessierte sich nicht mehr für die Zuordnung der Varianten den Phonemen, stellte nicht mehr Phonemsysteme auf. Sie erklärte die Merkmale für die wichtigsten phonologischen Einheiten und versuchte Regeln aufzustellen, nach denen die Merkmale in die grammatischen Formative – Morpheme – eingegliedert werden. Das brachte die Phonologie wenig nach vorn.

Die sowjetische Phonologie ist durch einige wissenschaftliche Schulen vertreten.

Die Leningrader Phonologische Schule ist mit den Namen von L.W. Schtscherba, L.R. Sinder, M.I. Matussetitsch u.a. verbunden. So entwickelte L.W. Schtscherba, in Anlehnung an N. Trubetzkoy, die Variantenlehre in Anwendung auf die russische Sprache. M.I. Matussetitsch und L.W. Bondarko forschten über die Rolle der physiologischen und akustischen Merkmale für das Lautsystem einer Sprache. L.R. Sinder entwickelte die allgemeine Phonetik, N.D. Swetosarowa und ihre Universitätskollegen befassten sich mit der Phonetik der deutschen Sprache.

Die Moskauer Phonologische Schule ist durch solche bekannten Wissenschaftler wie R.I. Avanessow, V.N. Sidorow, A.A. Reformatskij, R.K. Potapova, L.P. Blochina u.a. vertreten. Diese Wissenschaftler stützten sich überwiegend auf Baudouins Auffassungen des Phonems, obwohl sie die Ansichten von N. Trubetzkoy auch nicht ablehnten. So berücksichtigt, z.B., A.A. Reformat-ski bei der Segmentierung des Textes und bei der Phonemdifferenzierung vor allem die Morphemidentität. Er sieht auch die phonologischen Merkmale anders, als N. Trubetzkoy: A.A. Reformatskij trennt sie in integrierende (= irrelevante) und differenzierende (= distinktive) und berücksichtigt bei der Phonembeschreibung die beiden Klassen, auch wenn die integrierenden Merkmale keine Oppositionen bilden. Ferner unterscheidet er zwischen Variation von Phonemen und Phonemvarianten. Unter Variation versteht er Phonemveränderungen, bei denen Lautgebilde entstehen, die mit anderen Phonemen dieser Sprache nicht übereinstimmen: die K uh [khu:]. Als Varianten werden solche Phonemveränderungen gewertet, die sich mit anderen Phonemen überlappen: Berge – Ber [k]. Offensichtlich ist die grammatische Orientierung der Forscher, die auf B. de Courtanay zurückgeht. Die Moskauer Phonologische Schule entwickelte in diesem Rahmen die Positionslehre – Theorie für starke und schwache Positionen der Phoneme im Wort.

Die belarussischen Wissenschaftler entwickelten die Phonemlehre durch den Aufbau strenger Phonemsysteme (W.I. Padlushny), forschten über das phonetische System der belarussischen Sprache (W.I. Padlushny, L.T. Wygonnaja,) befassten sich intensiv mit der Phonostilistik und mit verschiedenen Aspekten phonetischer Systeme der europäischen Fremdsprachen (K.K. Baryschnikowa, S.M. Gaidučik, T.W. Poplawskaja, L.P. Morosowa, E.B. Karnewskaja und viele andere).

 



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