Trotz vieler Systematisierungsmöglichkeiten der deutschen Vokalphoneme gibt es im Bereich des deutschen Vokalismus bis jetzt nicht wenige ungelöste und strittige Fragen. Die wichtigsten davon sind:
1. Zahl der deutschen Vokalphoneme: Sie schwankt in unterschiedlichen Klassifikationen zwischen 15 und 19. Problematisch sind dabei vor allem der Vokal [ə] und das vokalisierte [r]. Für N. Trubetzkoy war das reduzierte [ə] zweifellos ein Phonem, weil es die Wortbedeutungen unterscheiden kann: Boot – Bot e, Kohl – Kohl e, Pol – Pol e, List – List e usw. Das war für den Begründer der Phonologie der wichtigste Beweis für den phonologischen Wert eines Elementes. Ähnliches gilt auch für das vokalisierte [r]: Lag e – Lag er, Flieg e – Flieg er usw. Viele Phonologen bleiben bei diesem Standpunkt auch heute und zählen die beiden Vokale zu den vollwertigen deutschen Vokalphonemen (z.B., K. Kohler). Ihre Opponenten betonen dagegen die Tatsache, dass alle „richtigen“ Vokalphoneme betont werden können, die beiden „defekten“ jedoch nie. Außerdem kann das reduzierte [ə] in einigen Formen ausfallen, und das ändert nichts an der Bedeutung des Wortes: Flieg e nach Rom! – Flieg nach Rom! Pack e deine Sachen! – Pack deine Sachen! Das vokalisierte [r] wechselt dazu bei der Formveränderung des Wortes mit dem Konsonanten [r] (weiter - weite r e, bitter - bitte r e), was richtige Vokale auch nie tun. Folglich, behaupten sie, seien das keine richtigen Vokalphoneme, sondern Varianten der anderen Phoneme.
2. Der zweite Stein des Anstoßes bei den deutschen Vokalen sind die Diphthonge: ihre phonologische Bewertung und ihre Bestandteile.
Was die phonologische Bewertung angeht, so teilen sich die Ansichten, ob Diphthonge monophonematisch oder biphonematisch sind, d.h. ob sie unteilbar sind oder ob sie aus zwei Elementen bestehen.
Artikulatorisch sind diese Segmente zweifellos einheitlich, man merkt keinen Übergang von einem Element zum anderen. Sie gehören auch zu einer Silbe, was für die phonologische Bewertung wesentlich ist. Doch wortunterscheidend wirken im Diphthong nicht die beiden Teile, sondern nur einer, meist der zweite (Ha u s – he i ß, m a n – me i n, E i s – a u s, W a nnen – we i nen usw.). Auditiv nehmen wir auch deutlich zwei unterschiedliche Elemente in diesen Segmenten wahr. Infolgedessen werden die Diphthonge bald als selbständige Vokalphoneme, bald als Kombinationen von zwei Vokalphonemen bewertet, was die Gesamtzahl der deutschen Vokalphoneme erhöht oder mindert.
Da das zweite Element in den Diphthongen schwach und undeutlich ist, kann man es nicht genau identifizieren, und für die deutschen Diphthonge findet man in der Fachliteratur verschiedene Bezeichnungen: [ai], [au], [ɔy] im Duden-Wörterbuch, [ei], [ao] und [ɔø] im „Großen Wörterbuch der deutschen Aussprache“, [au], [aɪ] und [oɪ] in der „Phonologie” von T. Alan Hall. Folglich sind weitere Forschungen darüber nötig.
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3. Ein weiteres phonologisches Problem ist der Status des langen offenen [e:]im deutschen Vokalsystem. Einerseits kann man nicht leugnen, dass dieses Element wort- und formunterscheidend wirkt: w e gen - w ä gen, s eh en - s ä en, S ee le – S ä le, B ee te – b ä te, g e ben – g ä ben, B ee ren- B ä ren usw. Doch die Zahl solcher Oppositionen ist nicht groß. Außerdem bilden im Deutschen lange und kurze Vokale immer Paare, nur zum kurzen offenen [e] gehören zwei lange Vokale: [e:] und [e:], was das strenge System zerstört.
4. Nicht eindeutig ist auch der phonologische Status der sonoren Konsonanten. Akustisch sind sie den Vokalen gleich: Sie bestehen nur aus dem Ton. Funktional, was für die Phonologie von besonderem Wert ist, sind sie auch den Vokalen ähnlich: Sie können Silben bilden. Sollte man sie deshalb nicht zu den Vokalen zählen? Aber sie treten leicht in natürliche Verbindung mit richtigen Vokalen und bilden zusammen mit ihnen Silben. Außerdem sind sie deutliche Hindernislaute im Unterschied zu den Vokalen, die Öffnungslaute sind. Auf solche Weise schließen zwei Seiten dieser Phoneme einander aus: Sie sind weder richtige Vokale noch vollwertige Konsonanten.
Zusammenfassend kann man sagen: Es ist offensichtlich, dass noch viele phonologische Probleme gibt, die einer Lösung harren und Raum für weitere Forschungen bieten. Außerdem muss man betonen, dass kein sprachliches System vollkommen und stabil ist, und das ist für die Sprache sehr wichtig: Nur offene Systeme haben Potential zur Entwicklung. Das Sprachsystem besitzt dieses Potential und nutzt es.